9 einfache Tipps für mehr digitale Resilienz


Im Blog-Beitrag über Nomophobia haben wir uns angeschaut, wie gefährlich digitale Medien und unsere Mobiltelefone sein können. Dabei ist uns wichtig, zu betonen, dass die Technik nicht per-se “schlecht” ist. Die Technik ist immer so gut und so schlecht, wie wir mit ihr umgehen.

Ich glaube, dass Romane, die die Technik weglassen, das Leben genauso falsch darstellen, wie die Viktorianer das Leben falsch darstellten, indem sie den Sex wegließen.
— Kurt Vonnegut

Dennoch gibt es einige Dinge, die die Technik gefährlich machen können, so wie auch Drogen in guter Dosierung heilen und zugleich auch abhängig machen können. Tatsächlich bedienen sich Online-Spiele und Social Media Plattformen Mechanismen, die wir aus dem Glücksspiel kennen. Sie werden nicht ohne Grund mit einarmigen Banditen verglichen, die wir aus Spielcasinos kennen.


Diese menschlichen Schwächen nutzen digitale Medien

Der Grund für den Vergleich mit Glücksautomaten ist simpel:

Unvorhersehbares lockt uns
Wir reagieren auf Unvorhergesehenes stärker als auf klar bestimmbare Ereignisse. Deswegen spüren wir den Drang, nach neuen Nachrichten, Emails, Likes, usw. zu schauen. Das Mobiltelefon ist eine wunderbare Maschine mit vielen Apps, die genau das alles bedienen – und uns sogar zeigen, wie viele Nachrichten und Updates auf uns warten. Dies ist eine große Einladung – und für manche eine Verführung oder perfekte Ablenkung. Finden wir dann neue Nachrichten und neue Likes, belohnt dies unser Hormonsystem mit Dopamin-Ausschüttung. Das Gefährliche: Wie bei Drogen und Glücksspiel gewöhnt sich unser Körper an diese Ausschüttung. Wir brauchen dann immer mehr Impulse, um wieder einen “Dopamin-Kick” zu bekommen. Dies führt bei Drogenkonsum zum Griff zu härteren Drogen, bei Online Spielen zu ununterbrochenem Spielen (bis zu 16-18 Stunden pro Tag), dem Verlust von sozialen Kontakten und vielem mehr. Bei Social Media führt dies zu einem regelmäßigen Nachschauen – derzeit schauen Erwachsene alle fünf Minuten auf ihr Mobiltelefon.

Endloses Scrollen
Die Social Media Plattformen sind besonders durch das Entfallen von echten Klicks durch die Nutzenden in die Kritik geraten. Dadurch können Nutzer:innen ohne Anstrengung endlos scrollen. Dies kritisiert der Erfinder heute selbst. 2006 konzipierte Aza Raskin für seine Firma Humanized “Endless Scrolling”. Sein Blogbeitrag kann hier heute noch abgerufen werden. Heute warnt Aza Raskin selbst vor dem endlosen Scrollen.

Wenn du deinem Gehirn keine Zeit gibst, deinen Impulsen nachzukommen, scrollst du einfach weiter nach unten.
— Aza Raskin

Die Animation stammt von Claudio Scotto auf Dribble.

Das endlose Scrollen profitiert vom sogenannten “Unit Bias” Effekt: Als Menschen sind wir von Natur aus motiviert, eine Einheit zu vollenden. Der Entwicklungspsychologe Brian D. Little spricht auch davon, dass wir “Zielerreichungsmaschinen” sind. Wir leben und denken in Projekten und funktionieren mit Zielen – auch wenn wir das nicht immer für wahr halten. Deswegen locken uns auch Apps und Programme zur Optimierung unserer Produktivität. Beim endlosen Scrollen nehmen wir an, dass die Menge die uns angezeigt wird, genau die richtige ist, um unsere Ziele zu erreichen. Doch sie enden nie – da die Menge der angebotenen Inhalte unendlich ist, surfen wir weiter, um alles zu konsumieren.


Die Social Media Plattformen wissen, was wir suchen

Bei einem Besuch bei Facebook in Dublin erfuhren wir, dass bei einem Login von uns auf der Plattform etwa 4.000 Skripte ausgelöst werden. Facebook steuert sehr genau, was wir sehen. Unter allen unseren Kontakten, Abonnements und Gruppen, denen wir beigetreten sind, wählt Facebook je nach Tageszeit genau aus, was wir sehen sollen. Wenn wir also nachts nicht schlafen können und auf Facebook oder Instagram nach Ablenkung suchen, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir Werbeangebote von Apps erhalten, die uns beim Einschlafen oder bei der Partnersuche helfen sollen. Durch unser Nutzerverhalten lassen wir die Plattformen sehr genau wissen:

  1. Welche Bilder und Videos wir länger anschauen

  2. Welche Profile wir mögen

  3. Welche Anzeigen wir länger betrachten – ohne auf sie zu klicken

  4. Mit wem wir im engen Austausch sind

  5. Wen oder was wir mögen.

Damit ist es den Plattformen möglich, uns ein optimales Buffet zu präsentieren, dass genau unserem Geschmack und unseren Bedürfnissen – oder Verlangen – entspricht.

Noch nie zuvor hatte eine Handvoll Tech-Designer eine solche Kontrolle über die Art und Weise, wie Milliarden von uns denken, handeln und unser Leben leben.
— "Das soziale Dilemma". Netflix Dokumentation.


Was uns hilft

Eine Menge von herausfordernden Nachrichten. Schauen wir, was uns helfen kann.
Hier sind einfache Tipps und Life-Hacks, um den digitalen Maschinen mit einer gehörigen Portion Autonomie und digitalen Selbstbestimmung entgegen zu treten:

  1. Schalte dein Mobiltelefon auf schwarz-weiß.
    So einfach es klingt, tatsächlich hilft es uns, wenn wir den Konsum begrenzen wollen, digitalen Medien nicht so attraktiv zu gestalten. Dies vermindert die Dopamin Reaktion unseres Hormonsystems. Bei den aktuellen Versionen von iOS (Einstellungen > Farbfilter) und Android (Entwicklereinstellungen) gibt es die Möglichkeit, dass Mobiltelefon auf monochrom umzustellen. Es ist ein Versuch wert.

  2. Lösche nicht die Apps

    Für eine kurze Zeit mag uns das Abmelden (relativ wirksam) oder das Löschen (wenig wirksam) von Apps, die unsere Aufmerksamkeit ziehen, helfen. Doch Studien zeigen, dass es sich wie bei Diäten vollzieht. Nach einiger Zeit kehren die meisten Nutzer:innen wieder zurück – und damit auch das alte Verhalten. Wirksamer ist es, dem Verlangen nachzugeben und die Erfahrung zu reflektieren oder das Verlangen einfach für einige Minuten (10) aufzuschieben – um dann häufig festzustellen, dass es gar nicht mehr so stark vorhanden ist.

  3. Nutze einen Kekstresor

    Das klingt wie ein Scherz, aber wenn nichts mehr hilft, helfen uns Tresore tatsächlich. Du kannst dein Mobiltelefon bewusst wegsperren und so dein Verhalten steuern. Noch effektiver: Reflektiere über die Erfahrung. Beobachte mit einem Journal deine Gedanken und Emotionen. Diese Technik entstammt der “Acceptance und Commitment Therapie” von Steven Hayes.

  4. Unser Online Verhalten dokumentieren

    Tatsächlich ist eine der einfachsten Therapieformen das Tagebuchschreiben. Prof. James W. Pennebaker hat dies bereits vor über 30 Jahren erforscht. Seitdem haben viele Studien seine Ergebnisse bestätigt. Seine Empfehlungen lauten:


    Schreibe an drei bis vier aufeinanderfolgenden Tagen für etwa 20 Minuten über

    1. dein Verhalten,

    2. deine Motivation,

    3. deine Gefühle – was dich bedrückt, was dich unruhig macht, was dir Freude bereitet,

    4. wofür du dankbar bist und

    5. was deine Herausforderungen sind.

  5. Die Gründe hinter den Gründen erforschen
    Um unsere wahre Emotion (siehe Punkt 6: ehrlich sein) zu ergründen, können wir die Methode nutzen, so oft nach dem “Warum” zu fragen, wie es nötig ist, um eine Emotion zu erreichen. Häufig wird dies beim fünften “Warum” der Fall sein. Diese Technik wurde aus dem Toyota-Produktionssystem übernommen und von Taiichi Ohno als 5-Whys-Methode beschrieben. Taiichi Ohno schrieb, dass sie “die Grundlage von Toyotas wissenschaftlichem Ansatz ist. Indem man das Warum? fünfmal wiederholt, wird die Art des Problems und seine Lösung klar.”

  6. Ehrlich sein
    Niemandem hilft es, wenn wir nicht ehrlich zu uns sind. Ehrlichkeit und immer wieder das Fragen nach dem “Warum”.

  7. Achtsam und besonnen mit uns selbst umgehen
    Wenn es mal nicht gut geht, sollten wir uns nicht gleich verurteilen – das ist für den Aufbau von neuen, gesunden Gewohnheiten sowie für das Ablegen von alten Gewohnheiten, hinderlich. Dagegen hilft:

  8. Mit dem Scheitern rechnen. Beim Aufbau von neuen Gewohnheiten hilft es uns, wenn wir nicht zu optimistisch heran gehen und mit dem Scheitern rechnen. Die Empfehlung lautet sogar: es sich einmal mental vorzustellen und es intensiv zu durchleben.

  9. Langsam atmen
    Studien zeigen, dass langsames Atmen – unter 10 Atemzüge pro Minute – direkte Auswirkungen auf unser vegetatives Nervensystem hat. Dies können wir in einer Einheit von 10 Minuten üben, in dem wir mehr und mehr unseren Atem beruhigen. Wozu langsames Atmen?

  • es aktiviert unser parasympathisches Nervensystem

  • beruhigt uns bei Stresssituationen

  • führt zu einer verbesserten Herzratenvariabilität, die in Verbindung mit unserer Selbstkontrolle steht

  • es verbessert als Resultat die Exekutivfunktionen unseres prefrontalen Kortex, der maßgeblich für die Rationalität, Motivation und Steuerung von Entscheidungen zuständig ist. Er wird auch “Regisseur im Gehirn“ genannt – kurzum, der prefrontale Kortex kann uns daran erinnern, welche langfristigen Ziele wir verfolgen und warum wir diese Entscheidung so oder so treffen sollten. Wird er nicht angesprochen, reagiert eher unser ältestes Gehirnareal (das limbische System, in dem sich auch die Amygdala befindet), dass vornehmlich durch impulshafte Emotionen und “Begehrlichkeiten” angesteuert wird. In den ersten Minuten einer Amygdala Reaktion schaltet diese sogar die Exekutivfunktion des prefrontalen Kortex “aus”, sie legt ihn gewissermaßen “lahm”. Langsames Atmen hilft uns, eine ausgeglichene Kommunikation zwischen prefrontalen Kortex und limbischen System herzustellen.

Die Forschung zeigt, dass Menschen, die glauben, sie hätten die meiste Willenskraft, in Wirklichkeit am ehesten die Kontrolle verlieren, wenn sie in Versuchung geraten. So werden zum Beispiel Raucher, die am optimistischsten sind was ihre Fähigkeit angeht der Versuchung zu widerstehen, vier Monate später am ehesten rückfällig und überoptimistische Diätwillige nehmen am wenigsten ab. Warum? Sie können nicht vorhersagen, wann, wo und warum sie nachgeben werden. Sie setzen sich mehr Versuchungen aus.
— Kelly McGonigal
 
 
Die größten Feinde der Willenskraft: Versuchung, Selbstkritik und Stress. (...) Diese drei Fähigkeiten - Selbsterkenntnis, Selbstfürsorge und das Erinnern an das Wichtigste - sind die Grundlage für Selbstbeherrschung.
— Dr. Kelly McGonigal
 

Nachweise und Literaturempfehlungen

  1. Hayes, S. C., Strosahl, K., & Wilson, K. G. (2016). Acceptance and commitment therapy: The process and practice of mindful change.

  2. McGonigal, K., & Dixon, W. (2019). The Willpower Instinct: How Self-Control Works, Why It Matters, and What You Can Do To Get More of It.

  3. Goodin, T. (2021). My Brain Has Too Many Tabs Open: How to Untangle Our Relationship with Tech. Minneapolis: Quarto Publishing Group UK.

  4. Koukouletsos, Kostas & Moustris, Kostas & Paliatsos, Athanasios. (2014). The impact of long scrolling web pages on users.

  5. MLA: Houston, Jackie. "The Dangers of the Endless Scroll: Social Media use as a Mental.." University Wire, 04 Oct, 2016.

  6. Zaccaro A, Piarulli A, Laurino M, Garbella E, Menicucci D, Neri B and Gemignani A (2018) How Breath-Control Can Change Your Life: A Systematic Review on Psycho-Physiological Correlates of Slow Breathing.

Zurück
Zurück

Digitale Resilienz im Homeoffice

Weiter
Weiter

Nomophobia und was wir tun können