Nomophobia und was wir tun können
“Ihre Kinder müssen das iPad also lieben?”, fragte der Reporter der New York Times. “Sie haben es noch nie benutzt”, antwortete Steve Jobs.
Erst kürzlich haben wir “Digital Consultants” in Fragen von Resilienz und digitaler Arbeit trainiert. Dabei war es erstaunlich für uns zu beobachten, wie konsequent alle Teilnehmenden das Mobiltelefon während der Trainingseinheiten zur Seite legten. Zugleich waren wir noch erstaunter darüber, wie sekundenschnell der Griff nach dem Smartphones in den Pausen erfolgte. Nahezu ohne jeglichen Abstand war der Blick sofort wieder auf das Geschehen und die neuesten Nachrichten auf dem Smartphone gerichtet. Ist dies das neue Normal – oder nicht mehr normal?
Damit beschäftigt sich einerseits die digitale Ethik und zugleich auch die Verhaltensforschung. Wir kennen eine Reihe von Abhängigkeiten und Süchten. Süchte können unbemerkt und schleichend entstehen. Häufig sind die “Drogen” dabei reguliert, wie etwas beim Konsum von Tabak und Alkohol oder beim Glücksspiel. Viele vermeintlich leichte Abhängigkeiten und Süchte werden jedoch pönalisiert, dazu gehören Sex-, Shopping- oder auch die Online-Spielsucht. Maressa Hecht Orzack, klinische Psychologin am McLean Hospital in Massachusetts, hat dargelegt, dass bis zu 40 Prozent der SpielerInnen des Online-Spiels “World of Warcraft” süchtig sind.
Ab wann sind wir abhängig vom Smartphone? Damit beschäftigt sich die Forschung zu “Nomophobia”.
Was Nomophobia bedeutet
Der Begriff NOMOPHOBIA oder NO MObile PHOne PhoBIA wird verwendet, um einen psychologischen Zustand zu beschreiben, bei dem Menschen Angst davor haben, von ihrem Smartphone oder der Mobilfunkverbindung getrennt zu sein. Der Begriff Nomophobia basiert auf den Definitionen des Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM) und wird als “Phobie vor einem bestimmten Gegenstand” bezeichnet.
Wie Nomophobia auftritt
Nomophobia tritt bei vielen NutzerInnen von Mobiltelefonen unbemerkt auf und wird häufig nicht als psychische oder neurotische Störung wahr genommen. Die Effekte sind schleichend und können durch folgende Verhaltensweisen zutage treten:
Das Mobiltelefon wird an private und Stille Orte mitgenommen: Bad, WC, Schlafplatz u.a.
Das Mobiltelefon ist häufig und unbemerkt im Einsatz.
Betroffene werden nervös, wenn sie ihr Mobiltelefon verlegt haben, die Batterie schwach oder leer ist oder sie über keinen Mobilfunkempfang verfügen.
Nomophobia tritt in sichtbaren Formen von Stress auf. Betroffene berichten von:
Entzugserscheinungen, wie Nervosität, Ängsten und depressiver Stimmung
Unruhe und Drang nach dem Mobiltelefon
Beklemmung bei ausgeschaltetem Mobiltelefon
Schweißausbrüche, Zittern, Herzklopfen, Angstzustände und Panik bei Unerreichbarkeit
Gefühl der Nacktheit, wenn das Mobiltelefon zu Hause gelassen wurde
Es wird deutlich, dass sich bei Betroffenden von Nomophobia Stressphänomene wie bei anderen Suchterkrankungen zeigen. Für viele fehlt der Kontakt zur Außenwelt, die Bestätigung von der Außenwelt, wie etwa bei Social Media und die Belohnung (die zu Dopamin Ausschüttung führt) bei der Nutzung von Apps und Social Media.
“Gute” Bedingungen für Nomophobia
Forschende untersuchen bis heute förderliche Grundbedingungen für Nomophobia: Welche Bedingungen unterstützen Nomophobia im Besonderen? Daraus lassen sich im Umkehrschluss Maßnahmen ableiten, die Nomophobia verhindern oder mildern können. Hierbei zeigt sich, dass Nomophobia auch ein mediales Phänomen ist und mit der Angst, etwas zu verpassen (“Fear of Missing out”, FOMO) verbunden ist. Nach dem Stand der Forschung ist das Auftreten von Nomophobia verbunden mit:
unserer Persönlichkeitsstruktur
unserem Selbstbild und negativen Ansichten über uns (Negative Self-View)
Einsamkeit
geringer Lebenszufriedenheit
Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation
Weitere Zusammenhänge sind: Umfang der Internet-Nutzung, Einkommen, Urbanität.
Was Betroffene von Nomophobia tun können
Verzicht bei unkontrollierbarer Smartphone-Abhängigkeit
Wenn sich Nomophobia dauerhaft und psychotisch bemerkbar macht, hilft häufig nur der echte Entzug. Dies bedeutet ein vollständiger Verzicht für mindestens 3-4 Wochen. Solange braucht unser Organismus um die Ausschüttung von Hormonen wie von Dopamin wieder zu normalisieren.
Bewussten Umgang mit Smartphones üben
Wenn ich unter Symptomen von Nomophobia leide, mir aber zugleich noch ein bewusster Umgang mit Mobiltelefonen möglich ist, helfen andere Strategien, die wir der “Acceptance und Commitment Therapie” nach Steven Hayes entnehmen können. Wenn es mir noch möglich ist, eine Zeit bewusst ohne mein Mobiltelefon auszukommen, ich jedoch die Versuchung verspüre, das Mobiltelefon ohne konkrete Nutzungsabsicht (beispielsweise kein Telefonat, dass ich führen müsste) in die Hand zu nehmen, dann können zwei Strategien helfen:
Dem Verlangen nachgehen:
Ich gebe bewusst der “Versuchung” nach: Ich sage ja zu dem Impuls, jedoch reflektiere ich dabei mein Handeln. Im besten Fall gelingt es mir, mich selbst im Geschehen zu beobachten. Die Empfehlung ist dabei, dem Verlangen nachzugeben, jedoch die kognitive und emotionale Erfahrung dabei genau zu beobachten und sie festzuhalten, etwa durch ein Tagebuch (Journal). Die Gedanken und Gefühle können hier notiert werden. Dadurch können wir Abstand gewinnen und die Motive für unser Verlangen untersuchen. Zugleich können wir unser Verlangen besser einordnen und lassen es nicht zu “groß” werden. Wir können uns dadurch über das Gefühl der Beherrschbarkeit der eigenen Situation bewusst machen und erkennen, welche Handlungsmöglichkeiten uns offen stehen.Das Verlangen für eine kurze Zeit aufschieben: Die zweite Alternative ist simpel. Wir verschieben das Verlangen auf eine nicht zu lange Zeit. Etwa für zehn Minuten. Dies können wir uns auch explizit so zusagen: “in 10 Minuten schaue ich, ob ich das Verlangen noch habe.” Tatsächlich zeigt sich häufig, dass das Verlangen sein Mobiltelefon zu prüfen, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nicht mehr so stark vorhanden ist. Dadurch üben wir unsere Selbstkontrolle und werden uns unserer Autonomie bewusst. Auch diese Erfahrungen können in einem Tagebuch festgehalten werden.
Achtsamkeitsbasierte Interventionen praktizieren
Eine große Anzahl von Studien zeigen Zusammenhänge von unserer Fähigkeit zur emotionalen Regulation und Nomophobia auf: Unser emotionales Bewusstsein (Emotional Self-Awareness) und unsere emotionalen Regulationsfähigkeiten (Emotional Regulation, Emotionale Intelligenz) beeinflussen unsere Selbstkontrolle und damit die Fähigkeiten, die für einen gesunden Umgang mit digitalen Technologien entscheidend sind.
Hierzu stehen uns eine Reihe von achtsamkeitsbasierten Interventionen und Achtsamkeitspraktiken (Mindfulness-Based-Stress-Intervention, MBSI) zur Verfügung.
10 Thesen und Empfehlungen von Dr. Anna Lembke
Das unerbittliche Streben nach Vergnügen und das Vermeiden von Schmerz führt zu Schmerz.
Genesung beginnt mit Abstinenz.
Die Abstinenz stellt den Belohnungsweg des Gehirns wieder her und damit auch unsere Fähigkeit, Freude und einfachere Vergnügungen zu erleben.
Die Selbstbindung schafft einen buchstäblichen und meta-kognitiven Raum zwischen Verlangen und Konsum – eine moderne Notwendigkeit in unserer Dopamin überladenen Welt.
Medikamente können die Homöostase wiederherstellen. Aber bedenke, was wir verlieren, wenn wir unseren Schmerz weg medikamentieren.
Wenn wir auf die Schmerzseite drücken, wird unser Gleichgewicht auf die Seite der Lust verlagert.
Hüte dich davor, vom Schmerz süchtig zu werden.
Radikale Ehrlichkeit fördert das Bewusstsein, stärkt die Intimität und fördert eine Fülle von Gedanken.
Pro-soziale Scham bekräftigt, dass wir zum menschlichen Stamm gehören.
Anstatt vor der Welt wegzulaufen, können wir ihr entkommen, indem wir in sie eintauchen.
Nachweise und Literaturempfehlungen
Oggins, J., Sammis, J. Notions of Video Game Addiction and Their Relation to Self-Reported Addiction Among Players of World of Warcraft. Int J Ment Health Addiction
Lembke, A. (2021). Dopamine nation: Finding balance in the age of indulgence. London: Headline.
Hayes, S. C., Strosahl, K., & Wilson, K. G. (2016). Acceptance and commitment therapy: The process and practice of mindful change.
Opinion: Mo rocca nomophobia. Osgood, C. and Rocca, M. (Directors). (2008). New York: Columbia Broadcasting System. https://search.alexanderstreet.com/view/work/bibliographic_entity%7Cvideo_work%7C3166754
Ibrahim Arpaci & Selim Gundogan (2020) Mediating role of psychological resilience in the relationship between mindfulness and nomophobia, British Journal of Guidance & Counselling